16. September 2024
Ein Neuer in Neumünster
Neumünster hat 80.000 Einwohner, hundert Kommunalfahrzeuge und ein ambitioniertes Ziel: klimaneutral bis 2035. Gerade ist das erste Abfallsammelfahrzeug mit Wasserstoffbrennstoffzellenantrieb hier an den Start gegangen. Der Stadt war dieser Schritt so wichtig, dass sie ihn sogar trotz Wegfall der öffentlichen Fördermittel gegangen ist. Ein Ortstermin in Schleswig-Holstein mit Jakob, Dominic und Justin sowie einem MEDIUM X4.
Um 6:30 Uhr ist für Kolonne 1 Dienstbeginn im Technischen Betriebszentrum in Neumünsters Westen. Noch ist es angenehm kühl, aber es verspricht ein heißer Tag zu werden. Das Fahrzeug ist startklar, 100 Prozent Batterieladung, Reichweite etwa 220 km; mit leisem Surren rollt der BLUEPOWER in den sonnigen Septembermorgen. Es ist sein vierter Tag auf den Straßen von Neumünster, aber die Crew macht einen derart routinierten Eindruck, als sei er ein alter Bekannter. Und im Grunde genommen, ist er das ja auch. Fahrer Jakob Onoprienko wirkt sogar fast ein bisschen enttäuscht, wenn er sagt: “Ist alles wie bei den anderen Fahrzeugen auch – Cockpit, die Instrumentenanordnung, Displays – alles identisch …“ Er deutet aufs Armaturenbrett: „Mercedes auf Econic halt.“ Andererseits: Es brauchte nur eine Einweisung und schon konnte er losfahren. Und der Geräuschpegel natürlich, der ist wirklich bemerkenswert: „Das ist schon sehr, sehr angenehm. Anfangs hatte ich manchmal das Gefühl, das Ding ist überhaupt nicht an.“
Zumindest für den Laien fühlt sich die Fahrt ohnehin eher an wie in einer Limousine und weniger wie in einem Lkw: Leises Surren, leichtes Gleiten, keine Vibration und die Wendemanöver – aber das kann natürlich auch am Können des Fahrers liegen – muten an, als würde der Wagen sich direkt auf der Stelle drehen. Mit Zuladung manövrieren hier insgesamt 27 Tonnen, so spielerisch elegant wie Zinédine Zidane beim Roulette-Dribbeln.
Mit stillen Qualitäten überzeugen
Die Sonne steigt langsam höher, wirft durch schattige Alleebäume Lichtflecken aufs Kopfsteinpflaster – fast schon kitschig friedlich. Und genauso so still bleibt es auch. Vom Straßenrand betrachtet gibt es da immer diesen Minimoment: ein kurzes Stutzen, wenn der Wagen losfährt, aber nicht der erwartete Sound folgt. Zu sehr ist das Müllwagen-Bild im Kopf offenbar mit Motorengeräusch verknüpft.
Die stillen Qualitäten des BLUEPOWER – neben allen ökologischen Vorzügen – machen sich vor allem im hinteren Fahrzeugbereich bemerkbar. Wenn die Lader Dominic Rixen und Justin Denz auf ihren Trittbrettern stehen, können sie sich auch bei laufendem Motor unterhalten, ohne zu schreien. „Weniger Vibration, weniger Lärm, viel mehr Fahrkomfort“, fasst Dominic die Pluspunkte zusammen und zumindest für ihn persönlich bedeutet das oft auch: weniger Kopfschmerzen. Und: „Wenn der losfährt, der zieht gut weg. Schnell nochmal Handschuhe überstreifen auf dem Trittbrett, ist bei dem nicht drin“, ergänzt Justin.
Und oft sind es ja ohnehin die kleinen Dinge, die wahrhaft begeistern und in diesem einen Fall nicht mal etwas mit Wasserstoff zu tun haben: Ausgestattet mit einem vollelektrischen Epsilon 2600 Lifter, verfügt der Wagen über eine Führungsschiene für Großcontainer, die sich zur Schüttung hin verjüngt. „Container einfach ran schieben und der landet genau da, wo er hinsoll. Kein Gefummel und Gezerre mehr, damit der Winkel richtig stimmt. Das ist bei den schweren Containern schon eine echte Erleichterung“, so Dominic.
Engagierte Stadt-Ziele
Neumünster hat sich selbst das Ziel gesteckt, bis 2035 klimaneutral zu sein – das ist ein bisschen schneller und ambitionierter, als es die EU vorsieht. Das TBZ, das Technische Betriebszentrum der Stadt, hat einen Fuhrpark von rund 100 Fahrzeugen, darunter zehn Abfallsammelfahrzeuge. Rein rechnerisch wäre also jedes Jahr eines zu ersetzen mit einem alternativen Antrieb. Derzeit, erklärt der Leiter des TBZ, Ingo Kühl, funktioniere nur Wasserstoffbrennstoff. „Die Stadt selbst ist zwar gar nicht so groß, aber es kommen auf den Touren trotzdem einige Kilometer zusammen – vor allem weil die MBA, die Mechanisch Biologische Abfallentsorgung, wo entleert wird, etwas außerhalb im Süden der Stadt liegt. Die Akkus für Elektro-Lkw reichen derzeit noch nicht aus, da dient der Wasserstofftank als Reichweitenextender.
Rund 850 Abfalltonnen und Großcontainer mit Hausmüll stehen heute an der Strecke von Kolonne 1. In den Sammelkasten passen rund zehn Tonnen, in der Regel geht‘s zweimal pro Tour zur MBA zum Abladen – und Kollegen treffen. Klar, dass momentan der Neuzugang in der Flotte für Gesprächsstoff sorgt und auch Anlass zu Frotzeleien bietet.
Während die Besatzung vom BLUEPOWER noch auf dem Hof darauf wartet, dass sie ihre Ladung loswerden kann, zieht Kollege Dieter mit ‘nem Diesel längsseits und tritt im Leerlauf einmal ordentlich aufs Gas. „Na?!“, ruft er durchs offene Fenster über das Wrummmm: „Kannste das etwa nicht?“ Jakob kontert: „Was hast du gesagt? Ich versteh‘ nix! Dein Wagen ist so laut!“, und feixt still in sich hinein.
Betriebskosten sollen Kaufpreis ausgleichen
Trotz der jüngst ausgelaufenen Förderprogramme des Bundes für klimaschonende Nutzfahrzeuge und alternative Antriebe bei Lkw und Bussen, hat Neumünster sich für die Anschaffung entschieden. „Unser Oberbürgermeister wollte damit auch ein politisches Zeichen setzen“, erklärt Ingo Kühl. „Man kann nicht immer nur von den Bürgern Engagement erwarten, die Stadt selbst muss vorangehen.“ Für dieses Vorgehen ist Neumünster gut aufgestellt. Es gibt hier die erste öffentliche Wasserstofftankstelle in Schleswig-Holstein, außerdem entstehen gleich zwei Wasserstofffabriken in nächster Nähe – eine in der Stadt, eine im Nachbarkreis. Dazu werden Faulgase aus der Kläranlage verstromt, die dann auch die BLUEPOWER-Akkus aufladen. „Wir erwarten uns, dass sich der hohe Kaufpreis des Wagens durch die gesunkenen Betriebskosten amortisiert“, erklärt Ingo Kühl.
Kolonne 1 nimmt derweil Kurs auf den Feierabend. Der BLUEPOWER fährt ins Depot, die Brennstoffzelle brennt noch ein Weilchen nach – mit dem föhnenden Geräusch eines Ventilators, linker Seite fällt ein Tropfen Wasser mit zartem Plitsch auf Asphalt und dann wird es mit einem leisen Pfffff endgültig still.